Tiefer tauchen

Denken: ein Organ, mit dem wir denken das wir denken.

A.Bierce

...ich möchte erneut an dem Punkt ansetzten, der mir als der alles Entscheidende erscheint, nämlich, dass wir das Leben nahezu ausschließlich aus der Ich-Perspektive betrachten. Das „Nahezu“ meint ca. 99%. Der Rest entfällt auf verschiedene andere Bewusstseinszustände, deren Einfluss auf die vorherrschende Ich-Perspektive eher gering ausfällt, auch wenn er für eine einzelne Person durchaus transformierend sein kann.

Was heißt das konkret und im Alltag? Nun, in jedem Augenblick, in dem wir sagen, etwas befände sich vor, hinter über oder unter uns, machen wir uns zum Mittelpunkt des Universums. Ja, ich weiß, es kling entweder sehr erhaben, anmaßend, oder übertrieben. Aber so ist es. Das so genannte und empfundene Ich ist in jedem Satz der eigentliche Bezugspunkt, ganz gleich, wie bescheiden es aufzutreten vermag. Weshalb? Weil sich auch die größte Bescheidenheit auf ein Ich bezieht, welches von ihr insofern unberührt bleibt, weil es deren Mittelpunkt bildet.

So gesehen ist Egozentrismus keine moralische Verfehlung, die abgeschafft werden könnte, sondern der Kern der Ich-Perspektive schlechthin. Demnach sind wir alle egozentrisch, weil wir alles und zwar wirklich alles auf ein vermeintliches Ich beziehen. Ich sehe, ich esse, ich gehe, ich atme. Die Aufzählung lässt sich endlos fortsetzen, eben weil endlos viele Betrachtungen immer nur uns als den Betrachter haben. Wer ist aber dieses „uns“, „wir“ oder „ich“?

Genau diese Fragen sind und bleiben – seid Menschheitsgedenken – kaum zufriedenstellend beantwortet. Etwas Interessantes, ja eine Art von Wink oder Hinweis leuchtet hier kurz auf. Er verbirgt sich in der Bemerkung „seit Menschheitsgedenken“. Davor nämlich war die Frage wohl kein Problem. Warum? Nicht etwa, weil sie von keinem versucht wurde beantwortet zu werden. Nein, das konnte nicht der Sachverhalt gewesen sein. Der Grund dafür liegt einen Schritt davor. Die Frage konnte ohne „Menschheitsgedenken“ weder formuliert noch gestellt werden. Sie existierte als solche gar nicht und zwar deswegen nicht, weil es vor dem „Menschheitsgedenken“ keinen gab, der sie hätte stellen können.

Menschheit und Gedenken bzw. Menschsein und Gedanken hängen viel enger miteinander zusammen, als es uns immer noch erscheint. Und wie erscheinen sie uns? Nun, sie erscheinen uns als getrennt existierend. Das klingt zwar banal, ist aber fundamental für alle anderen Betrachtungen. Denn als getrennt vorausgesetzt, setzten wir uns oder die Gedanken an den Anfang bzw. als den Anfang der Existenz von uns selbst.

Also erneut die Gretchenfrage: wer oder was war zuerst da? Die Gedanken oder der Denker? „Menschsein“ oder „Gedenken“? Interessanterweise ist bereits die Frage „gedacht“. Von wem aber? Kann man, ja sollte man sich ein „Ich“ ohne Gedanken vorstellen? Oder noch genauer: kann, ja sollte man sich Gedanken ohne Denker vorstellen? Beginnen wir mal mit der zweiten Frage. Existieren Gedanken ohne eine Denkerin oder einen Denker? Eine erste Antwort könnte lauten: Ja!. Millionen Bücher und anderer Schriften sind voll von Gedanken und digitale Träger speichern sie ebenfalls. So der erste Gedanke als Antwort auf unsere Frage. Sind aber die Bücher oder Festplatten wirklich voller Gedanken? Sind die Buchstaben, Zeichen oder Bits wirklich Gedanken? Oder eben nur das, was sie sind: Zeichnungen, Striche, Kreise oder Codes? Wo sind die Gedanken? Im Buch oder doch in der Person, die sie zu lesen und mithin die Zeichen zu deuten vermag? Also sind die Gedanken doch eher in uns als ohne uns? Und wenn in uns, dann sind wir ohne sie schon da?Wer sind wir...?

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